Den Mitschnitt der Veranstaltung gibt es jetzt in voller Länge in der MDR Mediathek.
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Straße als Schauplatz von unsichtbaren und sichtbaren Kämpfen
„Erinnerst Du Dich, wie leer die Stadt war, wie gespenstisch still, in den ersten Monaten der Pandemie? Ausgangssperren, eingeschränkte Kontakte?“
Ich weiß nicht mehr, wie wir auf das Thema kamen. Wahrscheinlich hatte ich von einer meiner Fahrten durchs Land berichtet. Querfeldein. Vom Unterwegssein im entleerten Raum. Wir saßen in einer dieser wuseligen Nebenstraßen der Neuköllner Sonnenallee, unweit ihrer gerade noch bezahlbaren Einzimmerwohnung, als die Berliner Freundin von einer Furcht erzählte, die den Straßendörfern Brandenburgs galt. „Ich habe dort noch nie einen Menschen gehen sehen. Pandemie hin oder her.“ Sie assoziiere Zombiefilme oder andere postapokalyptische Stoffe mit diesen langgezogenen Siedlungsflecken, die sie regelmäßig auf dem Weg nach Norden, Richtung Ostsee, durchquere. Und ich gab ihr Recht.
Was sie da beschrieb, ist kein neues Phänomen. Auch keines, das nur die Dörfer betrifft. Doch seit wann ist das so? Was hat ihn ausgelöst, wie vollzog sich dieser offensichtliche Verlust von Gemeinschaft und Struktur des öffentlichen Lebens im ländlichen Brandenburg?
Foto: © Manja Präkels
Ostdeutsche Protestkultur zwischen 2015 und 2024
Seit 2015 forsche ich zu und auf Straßenprotesten in einer Region,[1] in der in diesem Jahr Kommunal-, Europa- und Landtagswahlen anstehen und für die man unterschiedliche Namen finden kann: das Sendegebiet des Mitteldeutschen Rundfunks, die neuen Bundesländer, der Osten, „die Widerstandshochburg“ (Freie Sachsen). Auch für die Straße gibt es unterschiedliche Beschreibungen. Thomas Lindenberger konturiert sie (historisch) als eigenständige Arena des Politischen für „die kollektive Artikulation und Wahrung von Interessen […] außerhalb eines vorgesehenen Instanzenweges und mit körperlichen statt verbalbürokratischen Mitteln“,[2] als einen Aushandlungsort für konkurrierende Vorstellungen von politischer Ordnung und legitimer Kollektivität, als Kulisse für den Anspruch auf die Beherrschung des öffentlichen Raums, für Einschüchterungen und Feindmarkierungen. Für Steffen Mau scheinen Drohkulissen auf den Straßen mittlerweile „die üblichen Wege von Interessensvermittlung über Parteien und Parlamente[]“ zu überlagern.[3] Schilderungen aus der jüngeren Protestgeschichte sollen deutlich machen, wie sich politische Instabilität und Destabilisierung durch Straßenproteste wechselseitig bedingen, und damit den Blick dafür schärfen, „[w]as [im Wahljahr] auf dem Spiel steht“.[4]
Foto: © Alexander Leistner
Ich kam in die Kleinstadt im Thüringer Wald. Weil der Friseursalon bekanntlich ein Schlüssel zur Stadt ist, hatte ich einen Termin in einem solchen Etablissement vereinbart. Mein Vorwand? Die Färbung der Haaransätze.
An dem Tag war ich erstaunlich wenig gesprächig. Ausgerechnet ich, die ein Loblied auf die Geselligkeit verfasst hatte,[1] fragte nichts, war maulfaul. Die Friseurin genauso. Musik füllte die Stille. Zum Beobachten spürte ich für meine Verhältnisse kaum Ansporn. Ich merkte etwas lustlos, dass der Salon gepflegt, sauber, bodenständig war.
Als die Friseurin dabei war, meine Farbe anzulegen, betrat eine weitere Kundin den Salon, die mit einer Handgeste gebeten wurde, sich in den Stuhl neben mich zu setzen. Sie – mittellanges Haar, keine oder kaum sichtbare Grauansätze – war nicht alt, sah dennoch gealtert aus.
Foto: © Barbara Thériault
„Des Geldes wegen zieht hier niemand her“, sagt Steven Kempe, der für die SPD im Frankenberger Stadtrat sitzt. Die mittelsächsische Kleinstadt liegt etwa eine Fahrradstunde von Chemnitz entfernt. Der Weg führt über sanfte Hügel, durch beschauliche Dörfer und auf alten LPG-Straßen an blühenden Rapsfeldern vorbei. Die Landschaft ist noch nicht die der hochschießenden Fichten und schroff abfallenden Felsen, die Caspar David Friedrich in seinen sächsischen Naturcollagen beschwört. Und auch sonst begleiten mich an diesem letzten Apriltag auf dem Weg vom Chemnitzer Hauptbahnhof nach Frankenberg weniger die Sehnsuchtsbilder romantischer Naturmalerei als die sehr realen Plakate der Freien Sachsen, einer neonazistischen Kleinstpartei, die bereits einen Tag nach dem Start der Plakatierung für die EU- und Kommunalwahlen überproportional häufig an den Lichtmasten hängen.
Foto: © ArtëmTiteev
Die Autorinnen Barbara Thériault und Tina Pruschmann beobachten die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen. Dabei geht es ihnen um den Alltag jenseits der Wahlkampfslogans. Sie machen Langzeitbeobachtungen, um den politischen Umbruch festzuhalten.
Moderation: Stefan Petermann
Mitschnitt einer Veranstaltung vom 21. August 2024 im Künstlergarten am Haus der Weimarer Republik.
Als Schicksalswahl wurde sie bezeichnet, die Landtagswahl in Sachsen am 1. September. Und obwohl der Begriff vor allem das „Schicksal“ politischer Parteien im Parlament meint, lässt er sich durchaus weiter fassen: Die Wahl hat auch Folgen für unsere Gesellschaft. Wie kommen wir nach Wahlkampf und Abgrenzung wieder in einen produktiven Dialog? Was erleben Menschen, die sich für Demokratie und ein soziales Miteinander stark machen? Was befürchten Sie? Was erhoffen Sie sich – und von wem?
Hier anhören: Dienstags direkt | 03.09.2024 | 20-23 Uhr
Das könnte ein wichtiges Thema sein, meldet sich die eigene Erinnerung an die 1990er-Jahre-Jugend in einer ostdeutschen Kleinstadt. Während die Verfahren und Institutionen der jungen Demokratie Wurzeln schlugen, gab es einen Alltag, in dem der politische Kompass auf Schulhöfen, in Jugendclubs oder an der Tankstelle mit Fäusten justiert wurde – entlang der Frage: „Bist du rechts, links, neutral?“ ….
Hier weiterlesen auf Verfassungsblog.de
Foto: © Alexander Leistner
Für ihr Projekt „Überlandschreiberinnen“ tourt Schriftstellerin Tina Pruschmann seit Monaten durch Sachsen. Dabei kommt sie mit Menschen ins Gespräch – über ihr Leben, ihre Wünsche, ihre Träume. Wie erlebt sie das?
Hier anhören: MDR SACHSEN – Das Sachsenradio Di 03.09.2024 20:00 Uhr 08:24 min
Aus der alten Plattenwohnsiedlung am Rande der Stadt Suhl in Thüringen sind die meisten längst ausgezogen. Doch wer geblieben ist, bleibt zufrieden.
Foto: © Barbara Thériault


